Hilmar von Campe, Zum nachdenken zwingender Autor und Redner

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Von Papst Benedikt XVI.


Europa braucht beides, Glaube und Vernunft
Wenn Europa das Christliche ausklammert, beraubt es sich seiner Wurzeln. Rationalität ohne religiöse Traditionen ist eine Bedrohung schreibt Papst Benedikt XVI. auf WELT ONLINE. Dabei sorgt sich das Kirchenoberhaupt um den Stand des Christentums.

Foto: AP
Sorgt sich um das Christentum: Ein Sonderpostwertzeichen anlässlich '80. Geburtstag Papst Benedikt XVI.' mit dem Motiv 'Papst mit dem Wappen des Papstes' Das Können des Menschen, seine Macht über die Materie ist im letzten Jahrhundert in einer vorher unausdenklichen Weise gewachsen. Aber die Macht seiner Verfügung über die Welt hat zugleich seiner Macht des Zerstörens Dimensionen eröffnet, die uns schaudern machen können. Dabei werden wir spontan an die Drohungen des Terrorismus, dieses neuen Krieges ohne Grenzen und ohne Fronten, denken. So mussten mitten in den freiheitlichen Staaten Sicherheitssysteme aufgebaut werden, wie es sie früher nur in den Diktaturen gab; dabei bleibt das Gefühl bestehen, dass diese Sicherungen dennoch nie wirklich genügend sein können, weil eine totale Überwachung weder möglich noch wünschbar ist.
Weniger sichtbar und doch nicht weniger unheimlich sind die Möglichkeiten der Selbstmanipulation, die dem Menschen zugewachsen sind. Er ist in die Brunnenstuben des Seins hinab gestiegen, hat die Bausteine des Menschseins entziffert und kann nun sozusagen selbst den Menschen montieren, der dann nicht mehr als ein Geschenk des Schöpfers in die Welt tritt, sondern als Produkt unseres Machens – und damit auch nach den selbst gewählten Bedürfnissen selektiert werden kann. Über diesem Menschen leuchtet dann nicht mehr der Glanz der Gottebenbildlichkeit, der ihm seine Würde und seine Unantastbarkeit gibt, sondern nur noch die Macht menschlichen Könnens. Er ist nur noch des Menschen Bild – und welches Menschen?

Der Stand des Christentums heute

So führt uns dieser rasche Blick auf die Weltlage im Ganzen zur Frage nach dem Stand des Christentums heute und damit auch zur Frage nach den Grundlagen Europas, das sich einmal als christlichen Kontinent betrachten konnte, das aber zugleich der Ausgangspunkt jener neuen wissenschaftlichen Rationalität ist, die uns gleichermaßen große Möglichkeiten wie Bedrohungen beschert hat. Das Christentum ist zwar nicht von Europa ausgegangen, aber es hat in Europa seine am meisten geschichtswirksame Ausprägung gefunden und bleibt insofern auf eine einzigartige Weise mit Europa verflochten. Andererseits hat eben dieses Europa seit der Renaissance auch jene wissenschaftliche Rationalität entwickelt, die nicht nur äußerlich im Zeitalter der Entdeckungen zur Einheit der Welt, zur Begegnung der Kontinente und Kulturen geführt hat, sondern tiefer gehend durch die von der Wissenschaft ermöglichte technische Kultur nun wirklich die ganze Welt prägt und in gewissem Sinn uniformiert.
Im Zusammenhang dieser Weise von Rationalität hat es auch eine Kultur entwickelt, die in bisher nirgendwo in der Menschheit gekannten Weise Gott aus dem öffentlichen Bewusstsein verbannt, sei es, dass er ganz geleugnet, sei es, dass seine Existenz als unbeweisbar, unsicher und daher eben dem subjektiven Entscheiden zugehörig als jedenfalls öffentlich irrelevant eingestuft wird. So hat in Europa einerseits das Christentum seine wirksamste Gestaltwerdung erlebt, aber zugleich ist in Europa eine Kultur gewachsen, die den radikalsten Widerspruch nicht nur gegen das Christentum, sondern gegen die religiösen und moralischen Traditionen der Menschheit überhaupt darstellt.

Die christlichen Wurzeln Europas

Im Disput um die Präambel der Europäischen Verfassung hat sich die Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Europa prägenden Kulturen in zwei Streitpunkten konkretisiert: in der Frage nach dem Gottesbezug in der Verfassung und um die Nennung der christlichen Wurzeln Europas. Man sagt uns beruhigend, dass ja im Artikel 52 der Verfassung die institutionellen Rechte der Kirchen gesichert seien. Aber das bedeutet doch, dass ihr Platz im Leben Europas im Bereich des politischen Kompromisses gefunden wird, dass ihr prägender Inhalt in den Grundlagen Europas hingegen keinen Platz hat. Wenn gesagt wird, die Nennung der christlichen Wurzeln Europas verletze die Gefühle der vielen Nichtchristen, die es in Europa gebe, so überzeugt das wenig.
Schlagworte
Joseph Kardinal Ratzinger Papst Benedikt XVI. Papst Johannes Paul II. Vernunft Gott Abendland
Nicht die Nennung Gottes beleidigt die Angehörigen anderer Religionen, sondern vielmehr der Versuch, die menschliche Gemeinschaft gänzlich ohne Gott zu konstruieren. Die Begründungen für das doppelte Nein zur Anerkennung der christlichen Wurzeln in der Präambel der Europäischen Verfassung setzen die Vorstellung voraus, dass nur die in unserer Gegenwart zu ihrer vollen Ausformung gelangte radikale laizistische Aufklärungskultur konstitutiv für die europäische Identität sein könne. Zum ihrem Wesen gehört es, dass sie als Kultur der endlich ganz zu sich selbst gekommenen Vernunft einen universalen Anspruch erhebt.
Dass sie sich als in sich vollständig und keiner Ergänzung durch andere kulturelle Faktoren bedürftig begreift und nur die Normen und Inhalte eben dieser Aufklärungskultur die Identität Europas selbst bestimmen dürfen. Auf welches kulturelle Wurzelgeflecht diese Kultur der Freiheit und der Demokratie aufgesetzt werde, sei letztlich gleichgültig. Eben darum könnten auch die jeweiligen Wurzeln nicht in die Definition der Grundlagen eintreten – es sind für Europa demgemäß abgestorbene Wurzeln, die nicht zur geltenden Identität gehören.

Von der Selbstzerstörung der Freiheit

Diese Philosophien haben als ihren Grundzug, dass sie positivistisch und daher antimetaphysisch sind, so dass Gott in ihnen letztlich nicht vorkommen kann. Sie beruhen auf einer Selbstbegrenzung der Vernunft, die im technischen Bereich erfolgreich und angemessen ist, aber in ihrer Verallgemeinerung den Menschen amputiert. Sie haben zur Folge, dass der Mensch keine moralische Instanz außerhalb seiner Berechnungen mehr kennt, und sie haben zur Folge, dass der Freiheitsbegriff zunächst grenzenlos zu wachsen scheint, aber so zur Selbstzerstörung der Freiheit führt.
Trotz ihrer scheinbar totalen Vernünftigkeit sind sie nicht die Stimme der Vernunft selbst und durchaus auch ihrerseits kulturell gebunden, eben an die Situation des Westens von heute. Deshalb sind sie keineswegs die Philosophie selbst, die einmal in der ganzen Welt gelten sollte. Vor allem aber ist diese Philosophie und Kultur unvollständig. Sie schneidet – bewusst – die eigenen historischen Wurzeln ab und beraubt sich damit der Quellkräfte, aus denen sie selber kam, sozusagen jener grundlegenden Erinnerung der Menschheit, ohne die die Vernunft orientierungslos wird. Diese Philosophie drückt nicht die ganze Vernunft des Menschen aus, sondern nur einen Teil davon, und ob dieser Amputation der Vernunft ist sie eben nicht als einfach vernünftig anzusehen. Eben deswegen auch ist sie unvollständig und kann gesund nur werden, wenn sie den Zusammenhang mit ihren Wurzeln wieder herstellt. Ein Baum ohne Wurzeln verdorrt...

Der Maßstab des menschlichen Handelns

Denn nun gilt, dass das Können des Menschen zum Maßstab seines Tuns wird. Was man kann, das darf man auch – ein vom Können abgetrenntes Dürfen gibt es nicht mehr. Das wäre ja gegen die Freiheit, die der oberste Wert überhaupt ist. Aber der Mensch kann viel und kann immer mehr. Wenn dieses Können nicht sein Maß in einem Dürfen findet, dann wird es – wir sehen es schon – zur Macht der Zerstörung. Der Mensch kann Menschen klonen – also tut er es. Der Mensch kann Menschen als Organvorrat für andere benützen, also tut er es – das verlangt, so scheint es, seine Freiheit. Der Mensch kann Atombomben bauen, also tut er es. Und also ist er im Prinzip auch bereit, sie zu verwenden. Letztlich beruht auch der Terrorismus auf dieser Art von Selbstermächtigung des Menschen – nicht auf den Lehren etwa des Koran.
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Damit sind wir wieder bei den zwei Streitfragen der Präambel der Europäischen Verfassung angelangt. Die Ausklammerung der christlichen Wurzeln erweist sich nicht als Ausdruck einer höheren Toleranz, die alle Kulturen gleich achtet und keine privilegieren will, sondern als Absolutsetzung eines Denk- und Lebenstypus, der gerade auch den anderen historischen Kulturen der Menschheit radikal entgegensteht. Der eigentliche Gegensatz, der die Welt heute also durchzieht, ist nicht der zwischen verschiedenen religiösen Kulturen, sondern der zwischen der radikalen Emanzipation des Menschen von Gott, von den Wurzeln des Lebens einerseits und den großen religiösen Kulturen andererseits. Wenn es zu einem Zusammenstoß der Kulturen kommt, so wird er nicht der Zusammenstoß der großen Religionen sein, die immer schon im Ringen miteinander standen und dabei immer auch gefehlt haben, aber letztlich auch einander bestehen ließen, sondern es wird der Zusammenstoß zwischen dieser radikalen Emanzipation des Menschen und den bisherigen Kulturen sein, die um Werte wussten und wissen, die aus dem Ewigen kommen und nicht zur Disposition unserer Wünsche stehen.

Gott darf nicht aus dem Bewusstsein gestrichen werden

So ist auch die Ablehnung des Gottesbezugs nicht Ausdruck von Toleranz, die die nicht theistischen Religionen und die Würde von Atheisten und Agnostikern schützen will, sondern wiederum Ausdruck eines Bewusstseins, das Gott endgültig aus dem öffentlichen Leben der Menschheit gestrichen und ins Subjektive weiter bestehender Kulturen der Vergangenheit verwiesen sehen möchte. Das Christentum muss sich dabei immer neu darauf besinnen, dass es Religion des Logos ist. Es ist Glaube an den Schöpfergeist, von dem alles Wirkliche stammt. Das gerade sollte heute seine philosophische Kraft sein. Denn die Debatte geht darum, ob die Welt aus der Unvernunft kommt und die Vernunft nur ein Unterprodukt ihrer Entwicklung ist, oder ob die Welt aus der Vernunft kommt und daher Vernunft ihr Maß und ihr Ziel ist. Der christliche Glaube steht für diese zweite These ein und hat damit auch rein philosophisch wahrhaftig keine schlechten Karten - auch wenn die erste These heute von vielen als allein „vernünftig“ und modern angesehen wird.

Gekürzte Fassung eines Vortrags, den Joseph Kardinal Ratzinger am 1. April 2005, einen Tag vor dem Tod Johannes Paul II., in Subiaco in Italien hielt. © Libreria Editrice Vaticana ed Edizioni Cantagalli 2005.

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